Das Elsass
Es gibt wenig Grenzländer in Europa, deren jüngere Geschichte, in vergleichbarer Weise durch politische wie auch kulturelle Wechselbäder geprägt ist.
Seit der Ansiedlung von alemannischen und fränkischen Bevölkerungsgruppen im 5. Jahrhundert war die Region Teil des deutschen Sprach- Dialekt- und Kulturraums. Vom Spätmittelalter bis zur Aufklärung entwickelte sie sich im deutschen Sprachraum zum wichtigsten Zentrum der deutschsprachigen Literatur. Nach Jahrhunderten der Zugehörigkeit zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation wurde das Elsass im Dreißigjährigen Krieg von den Truppen des Sonnenkönigs erobert. Der Frieden von Rijswik (1697) besiegelte die Annexion durch Frankreich.
Nationalistische Strömungen erzeugten im 19. Jahrhundert eine langjährige Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland. In drei aufeinander folgenden Kriegen wurde das Elsass zum Spielball kulturimperialistischer Rivalitäten zwischen beiden Ländern. Zwischen 1871 und 1945 waren die Elsässer insgesamt viermal gezwungen, ihre Staatsangehörigkeit zu wechseln. Jedes Mal war dies mit einschneidenden sprachlichen und kulturellen Umbrüchen, mit oft traumatisierenden persönlichen und familiären Schicksalen verbunden. Noch heute spricht man daher vom „malaise alsacien“, vom Unbehagen der Elsässer, die sich zwischen dem romanischen und dem germanischen Kulturraum hin- und hergerissen fühlten.
Nach über 170 Jahren der Zugehörigkeit zu Frankreich wurde das Elsass 1871 vom deutschen Kaiserreich annektiert und Teil des Reichslandes Elsass-Lothringen. Das sprachlich und kulturell noch überwiegend deutsch geprägte Elsass erfuhr um die Jahrhundertwende einen deutlichen wirtschaftlichen Aufschwung. Vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs erlangte es auch eine gewisse politische Autonomie. Nach der militärischen Niederlage kehrte es nach 47 Jahren wieder zu Frankreich zurück, was von der Bevölkerung überwiegend begrüßt wurde. Zwischen 1940 und 1944 wurde das Elsass von der Wehrmacht besetzt. Elsass und Baden bildeten nun den Gau Oberrhein. Die NS-Zeit hat bei der elsässischen Bevölkerung ein tiefsitzendes und lange nachwirkendes Trauma hinterlassen.
Nach der Befreiung distanzierte man sich in der Nachkriegszeit vom deutschen Kulturerbe, die Sprache Goethes bezeichnete man im Elsass nun als die Sprache der Nazis. Fortan galt es als chic, französisch zu sprechen. Die Elsässer orientierten sich nach Innerfrankreich und waren bemüht, sich als gute französische Patrioten zu beweisen. Französisch wurde in der Grundschule alleinige Unterrichtssprache, längere Zeit war sogar der Gebrauch des Dialekts auf dem Schulhof und in den Behörden bei Strafe untersagt. Erst nach zwei Jahrzehnten, als der deutsch-französische Aussöhnungsprozess längst in Gang gekommen war, wurde seit 1973 in den Grundschulen wieder Deutsch unterrichtet.
In den Jahrzehnten seit Kriegsende hat Frankreich die sprachliche und kulturelle Assimilation des Elsass mit äußerster Konsequenz vorangetrieben. Als Richtschnur diente die im französischen Zentralstaat geltende Prämisse der „einen und unteilbaren Republik“. Sie hat unter anderem bewirkt, dass die europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen bis heute von Frankreich nicht ratifiziert wurde. Die nationalistisch ausgerichtete Sprachpolitik hat dazu geführt, dass die Frankophonie im Elsass heute alle Lebensreiche bestimmt. Die deutsche Sprache ist dagegen längst auf den Status einer Fremdsprache geschrumpft. In der öffentlichen Wahrnehmung gilt sie weitgehend nur noch als die „Sprache des Nachbarn“. Auch der Dialekt, der heute nicht mehr als Elsasserditsch, sondern nur noch als elsässisch bezeichnet wird, wurde ins folkloristische Abseits gedrängt. Gab es 1946 noch 90% Dialektsprecher, so ist die elsässische Mundart heute faktisch vom Aussterben bedroht, da sie weder in den Vorschulen (écoles maternelles) noch vor allem in den Familien präsent ist.
Andrerseits gibt es seit den 1970er Jahren auch zahlreiche Initiativen, Verbände und öffentliche Einrichtungen, die sich die Erhaltung und Pflege der elsässischen Regionalkultur und Regionalsprache zum Ziel gesetzt haben. Diesen Bemühungen um eine Bewahrung der elsässischen Identität, auch ihrer deutschen Anteile, liegt eine Definition von Regionalsprache zugrunde, die aus zwei Komponenten besteht: Dem gesprochenen Dialekt in seinen alemannischen und fränkischen Varianten und der deutschen Hoch- bzw. Schriftsprache als Referenzsprache. Von einem Erfolg dieser Bemühungen zeugen unter anderem das Mundarttheater, eine neu entstandene Festival- und Kabarettkultur wie auch die stark wachsende Zahl von Publikationen, die sich mit der elsässischen Geschichte, Sprache und Kultur befassen.
Im Aufwind befindet sich nicht zuletzt aber auch die Entwicklung der Zweisprachigkeit. Seit den 1990er Jahren haben die elsässischen Gebietskörperschaften im Verbund mit Elternverbänden dem französischen Zentralstaat entsprechende Zugeständnisse abgerungen. Heute erhalten immerhin 16% aller Schüler in den öffentlichen écoles primaires einen bilingualen paritätischen Unterricht.
Mit der Förderung der Zweisprachigkeit verbindet sich die einzigartige Zukunftsvision einer deutsch-französischen Doppelkultur. Der elsässische Schriftsteller René Schickele hatte diese schon vor 100 Jahren propagiert. Das Elsass, an der Nahtstelle zweier Kulturnationen gelegen, ist aufgrund seiner Geschichte in beiden verwurzelt. Es ist daher in besonderer Weise dazu prädestiniert, eine Brückenfunktion zwischen Frankreich und Deutschland und so auch eine besondere europäische Mission zu erfüllen. Zweisprachigkeit und Doppelkultur stellen ein enormes Privileg dar, dessen Potentiale es beim Ausbau der grenzüberschreitenden Kooperation am Oberrhein zu nutzen gilt. Der Abbau von Sprachbarrieren fördert nicht nur den Aufbau einer allgemeinen Begegnungskultur, er eröffnet auch wirtschaftliche Chancen. Er ermöglicht jungen Menschen den Zugang zum Arbeitsmarkt in Baden und in der Schweiz, wo großer Fachkräftemangel herrscht, während umgekehrt im Elsass die Jugendarbeitslosigkeit mit ca 20% sehr hoch ist.
Anfang 2016 ist die historisch gewachsene Region Elsass im Zuge einer von Paris verfügten Territorialreform aufgelöst worden. Zusammen mit den Nachbarregionen Lothringen und Champagne-Ardenne wurde das Elsass Teil der neuen Großregion Grand-Est. Diese Zwangsfusion stieß in der Bevölkerung auf massiven Widerstand, 85% lehnen diese laut Umfragen ab. Weiter anhaltende Proteste haben dazu geführt, dass das Elsass ab 2021 den Status einer „europäischen Gebietskörperschaft“ erhalten soll. Allerdings innerhalb der Großregion und auch ohne Sonderstatus. Der neue Eurodistrikt soll mehr Freiräume bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit erhalten, auch beim Ausbau der Zweisprachigkeit entlang der Ländergrenzen. In die gleiche Richtung zielen auch die Bestimmungen des Anfang 2019 zwischen Paris und Berlin neu ausgehandelten Élysée-Vertrags. In dem neu eingefügten Kapitel 4 werden erstmals Fragen der regionalen und grenzüberschreitenden Zusammenarbeit geregelt. Auch über dieses Vertragswerk können sich neue Chancen im Hinblick auf die Bewahrung der elsässischen Regionalsprache und Regionalkultur eröffnen.